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MILITÄRÖKONOM KEUPP IM INTERVIEW: "FÜR RUSSLAND GEHT ES IN RICHTUNG SOWJETUNION"




Wirtschaft


MILITÄRÖKONOM KEUPP IM INTERVIEW "FÜR RUSSLAND GEHT ES IN RICHTUNG SOWJETUNION"

12.01.2023, 17:14 Uhr

Russische Soldaten feuern ein Feldgeschütz ab.

(Foto: picture alliance/dpa/Russian Defense Ministry Press Service/AP)



Die russische Wirtschaft leidet unter den Folgen des Überfalls auf die Ukraine.
Die Rüstungsindustrie kostet viel Geld, durch die Mobilisierung fehlen
qualifizierte Arbeitskräfte. Im Interview mit ntv.de prognostiziert
Militärökonom Marcus Keupp, Dozent an der Militärakademie der ETH Zürich, dem
Kreml eine düstere Zukunft - auch für deutsche Unternehmen, die geblieben sind.

ntv.de: Das russische Artilleriefeuer hat an der Front in der Ukraine teilweise
um 75 Prozent abgenommen. US-Vertreter haben bislang noch keine Erklärung, haben
Sie eine?

Marcus Keupp: Das ist kein Rätsel, im Gegenteil, das gab es schon im zweiten
Jahr des Ersten Weltkriegs. Damals schossen die Kriegsparteien unermüdlich mit
Artilleriemunition aufeinander, bis sie merkten, dass ihre Rüstungsindustrien
mit der Nachproduktion nicht mehr hinterherkommen.

Bei seiner Kriegsführung ist Russland auf Artillerie angewiesen. Wie lange
können die Kremltruppen dann noch so einen Krieg führen?

Politik 20.09.22 10:37 min
Militärdozent rechnet vor "Noch 280 Tage und Russland hat keine Panzer mehr"

Das ist die Frage: Entweder gibt es eine extrem leistungsfähige
Rüstungsindustrie, die diese Stückzahlen produzieren kann oder sie nehmen
Granaten aus ihren sowjetischen Depots. Russland hatte vor Kriegsbeginn ungefähr
17 Millionen Artilleriegranaten, sowohl seit 1991 als auch ex-sowjetische
Bestände. Die durchschnittliche Feuerfrequenz seit Februar liegt etwa bei 30.000
Artilleriegranaten pro Tag, vielleicht bei 50.000 in der Spitze im Sommer.
Zusammengerechnet sind das knapp elf Monate nach Kriegsbeginn dann etwa 10
Millionen Artilleriegranaten, die Russland bislang verschossen hat.

Kann die russische Rüstungsindustrie das ausgleichen?

Die Produktionskapazität der Russen liegt bei lediglich 1,2, vielleicht 1,7
Millionen Artilleriegranaten pro Jahr. Wenn sie ihre Feuerfrequenz
aufrechterhalten würden, dann hätten sie noch für 233 Tage solche Munition. Eine
Armee kann keinen Krieg führen, wenn in knapp acht Monaten die Munition ausgeht.
Das Land steht vor einem Problem: Russland hat nicht damit gerechnet, dass der
Krieg so lange dauern würde. Seit dem vergangenen Herbst rationieren sie daher
ihre Artilleriemunition.

Für eine vermeintliche Militärnation klingen 1,2 Millionen Artilleriegranaten
pro Jahr nicht nach sehr viel.

Die russische Rüstungsindustrie hatte schon immer zwei Probleme, auch in der
Sowjetunion. Erstens, die Korruption: Ein Großteil der Gelder, die für die
Rüstung vorgesehen sind, landet in den Taschen von korrupten Funktionären.
Zweitens ist die russische Rüstungsindustrie technologisch unterlegen: Sie kann
zwar produzieren, aber nicht besonders modern. Was Russland herstellen kann,
sind vor allem Kampfmittel des 20. Jahrhunderts. Für ein riesiges Land mit
seinem vermeintlichen Reichtum ist das nicht viel. Das steht in keinem
Verhältnis zu dem, was der Westen und seine Verbündeten an die Ukraine liefern
können.

Welche Rolle spielen dabei die Sanktionen?

Wirtschaft 26.04.22
Militärökonom über Angriffskrieg "Russlands Kriegskasse hält länger, als der
Westen denkt"

Die Sanktionen treffen die Rüstungsindustrie nicht so stark, vor allem wenn es
um einfache Systeme wie Artilleriegeschosse oder Kampfpanzer geht. Als der
großangelegte Angriff im Februar begann, hatten sich viele Beobachter erhofft,
dass die westlichen Sanktionen dafür sorgen würden, dass der Munitionsnachschub
stockt. Dabei wurde übersehen, dass die gesamte russische Rüstungsindustrie
schon seit 2014 sanktioniert ist - nicht nur von den USA. Diese Sanktionen
treffen vor allem das russische Exportgeschäft, nicht die Produktion. Keine
westliche Firma darf mehr Komponenten liefern, kein russischer Rüstungsproduzent
in den Westen exportieren. Alle Umgehungswege sind verboten.

Trotzdem kommt Russland noch an westliche Bauteile.

Es gibt eine Ausnahme: den Iran. Es tauchen immer wieder Bilder von russischen
Rüstungsgütern auf, in denen etwa westliche Chips stecken. Die wurden dann über
den Iran nach Russland geschmuggelt oder auf dem chinesischen Markt eingekauft.

Kommen wir noch zur gesamtwirtschaftlichen Lage. Das Haushaltsdefizit des Kreml
soll im vergangenen Jahr bei 47 Milliarden US-Dollar gelegen haben. Was bleibt
von der russischen Wirtschaft?

Für Russland geht es zurück in Richtung Sowjetunion. Deren Wirtschaft hatte drei
Grundsätze: Erstens das Primat des Militärs - Geld fließt also zuerst in die
Aufrüstung der Armee. Zweitens die Ruhigstellung der Bevölkerung -
Nahrungsmittel und Mieten wurden subventioniert, damit es nicht zu Unruhen
kommt. Und drittens der Import der übrigen Güter. Die große Ironie ist, dass
Putin bei den Russen deshalb beliebt ist, weil er eine Reihe großer
Sozialprogramme angestoßen hat. Er hat die Lage der Rentner verbessert und
versucht, die Armut zu lindern. Finanziert hat er das mit den hohen Gewinnen aus
dem Export von Gas und Öl.

Wirtschaft 12.09.22
Fesseln westlicher Sanktionen Russische Oligarchen bieten Geld gegen Freiheit

Der Westen bezieht kaum noch fossile Rohstoffe aus Russland, damit fällt diese
Einnahmequelle weg. Woher kommt dann das Geld?

Zuerst nimmt Putin das Geld aus dem nationalen Wohlfahrtsfonds, also dem
Sparschwein. Angesichts der Kriegskosten reicht das aber nicht lange. Danach
bleiben noch die Sozialausgaben. Die Armutsquote in Russland wird sicher
deutlich steigen. Irgendwann wird Russland wieder so aussehen wie die
Sowjetunion, ein graues Land mit autoritärem Militär und einer unterdrückten
Bevölkerung. Das ist traurig, aber meiner Ansicht nach das wahrscheinlichste
Szenario.

Zusätzlich hat der Kreml Hunderttausende Männer mobilisiert und wird damit wohl
auch weitermachen. Diese Arbeitskräfte fehlen in der heimischen Wirtschaft,
oder?

Russland hat bisher behauptet, sie würden 300.000 Menschen mobilisieren. Aber
nur ein Teil der Mobilisierten ist an der Front, der Rest wird wohl
zurückbehalten und offenbar länger ausgebildet. Die Todeszahlen sind das einzige
Indiz dafür, wie viele es wirklich sind: Bei Bachmut sollen zum Beispiel zuletzt
bei einem ukrainischen Angriff etwa 600 Soldaten gestorben sein. Die genaue Zahl
der Mobilisierten ist auch unerheblich: Schätzungsweise fehlen der russischen
Wirtschaft jetzt eine Million qualifizierte Arbeitskräfte. Neben den
Mobilisierten sind auch die 700.000 Menschen eingerechnet, die geflohen sind. Um
deutlich zu machen, wie ernst die Lage ist: Es gab erst unter der Woche eine
Mitteilung des russischen Digitalministeriums, dass alle IT-Fachkräfte, die
freiwillig zurückkommen, nicht ins Militär müssen.

Das klingt sehr verzweifelt.

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Der Arbeitskräftemangel trifft Moskaus Wirtschaft empfindlich. Gerade der
Finanz- und Dienstleistungssektor ist in Russland sehr IT-intensiv. Bei
russischen Banken beginnen derzeit die Überlegungen: Wie halten wir unser
Geschäft aufrecht, wenn die ganzen Leute fehlen? Das Problem ist nicht
unbedingt, dass sie beim Militär sterben, sondern nach Dubai, China oder
Kasachstan geflohen sind. Diese langfristigen Folgen darf man nicht
unterschätzen. Sollte Putin eine zweite, dritte oder vierte Mobilisierungswelle
starten, wird die Wirtschaft schnell zugrunde gehen.

Damit bleibt für Russland keine langfristige Perspektive?

Ja. Hinzu kommt ein Punkt, den auch einige deutsche Unternehmen nicht im Blick
haben: die Reparationen. Nehmen wir einmal an, der Krieg endet im Spätherbst
2023 mit einer russischen Niederlage. Dann halte ich es für äußerst
unwahrscheinlich, dass es eine große Neuordnung geben wird, wie etwa beim Wiener
Kongress 1815, als der Kontinent nach dem Sturz Napoleons neu geordnet wurde.
Wer zahlt dann aber die Schäden, die bislang in der Ukraine entstanden sind?
Stand jetzt sind es 800 Milliarden US-Dollar und mit jedem Tag wird es mehr. Ein
angeschlagenes Russland, das ultranationalistisch und revanchistisch eingestellt
ist, wird das auf keinen Fall freiwillig machen.

Sondern?

Die westlichen Staaten werden zunächst alle russischen Vermögenswerte
beschlagnahmen und enteignen. In den USA gibt es schon so ein Gesetz, in
Frankreich entsteht gerade eins. Was wohl folgen wird, ist die
Vergeltungsmaßnahme Russlands. Auch sie werden alle westlichen Firmen, die
geblieben sind, enteignen. Das betrifft dann auch deutsche Unternehmen. Ich
glaube, vielen westlichen Firmen ist das nicht klar. Sie haben noch nicht
verstanden, dass der Krieg nicht nur temporär ist, sondern gerade eine neue
Weltordnung entsteht. Die Konsequenzen sind viel größer als die Kampfhandlungen
in der Ukraine. Die ganze Welt baut sich um. Die wenigsten haben verstanden, was
das eigentlich heißt.

Mit Marcus Keupp sprach Sebastian Schneider

Quelle: ntv.de

THEMEN
 * Russland
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