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Zum Inhalt
 * Prolog
 * Selbstermächtigung
 * Begegnen, bewegen – Banden bilden
 * Wissen, Diagnose, Kontrolle
 * Körper fühlen, Bilder sehen
 * Leben in der Diktatur
 * Epilog

© NS-Dokumentationszentrum München, 2022


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TO BE SEEN. QUEER LIVES 19OO–195O

Die Ausstellung erzählt von der Vielfalt queeren Lebens, die zu Beginn des 20.
Jahrhunderts in Deutschland existierte und zwischen 1933 und 1945 zerstört
wurde.



7. Okt. 2022 bis 21. Mai 2023 | NS-Dokumentationszentrum München,
Max-Mannheimer-Platz 1, 80333 München | nsdoku.de



Um 1900 erlangen queere Menschen im öffentlichen Leben immer mehr Sichtbarkeit –
in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik. Die traditionellen Rollenbilder von
Mann und Frau werden in Frage gestellt. Der gesellschaftliche Umgang mit
Sexualität wird offener. Homosexuelle Frauen und Männer, trans* und nicht-binäre
Personen erzielen mit ihrem Kampf für gleiche Rechte und Akzeptanz erste
Erfolge: Sie organisieren sich und treten selbstbewusst für die
wissenschaftliche und gesetzliche Anerkennung ihrer sexuellen und
geschlechtlichen Identität ein.

___ Aufnahme von Lili Elbe, Paris 1926. Lili Elbe wurde durch ihre
Geschlechtsangleichung weit bekannt. Sie war eine wichtige Persönlichkeit der
damaligen queeren Szene Berlins. | © Man into Woman, An Authentic Record of a
Change of Sex, London: Jarrolds, 1933

Sie treffen sich öffentlich, gründen Zeitschriften und Vereine. Mit neuen,
eigenen Begriffen beschreiben sie ihre Identität und Zugehörigkeit. Urning,
lesbisch, Freundin, Bubi, homosexuell: Schon vor über 100 Jahren gibt es viele
Bezeichnungen für das, was wir heute queer nennen. Doch mit der Sichtbarkeit
wachsen auch die gesellschaftlichen und politischen Widerstände. Die
nationalsozialistische Machtübernahme 1933 ist ein prägender Einschnitt für
queere Menschen – ihre Subkultur wird weitgehend zerstört. In den
Nachkriegsjahren hält die Diskriminierung an.

___ Polizeifoto von Liddy Bacroff, aufgenommen nach einer Festnahme im Jahr
1933. Bacroff lebte von Sexarbeit und wurde mehrfach verhaftet und verurteilt.
1943 wurde Bacroff im KZ Mauthausen ermordet. | © Staatsarchiv Hamburg

Auch Jahrzehnte später ist die Geschichte von LGBTIQ* kaum erinnert oder
archiviert. Mit historischen Zeugnissen und künstlerischen Positionen von damals
bis in die Gegenwart zeichnet TO BE SEEN queere Lebensentwürfe und Netzwerke,
Freiräume und Verfolgung nach.

___ Alexander Sacharoff, ca. 1914. Der androgyne Tänzer schuf neue Körperbilder
und entwickelte den Kleidertausch zu einem eigenen Bühnengenre. | © Deutsches
Theatermuseum München

> [Q]ueerness exists for us as an ideality that can be distilled from the past
> and used to imagine a future.

José Esteban Muñoz, Queer-Theoretiker, 2009

„Queer“

„Queer“ bezeichnet ursprünglich alles, was sich nicht in gängige Kategorien
einordnen lässt. Das englische Wort queer („seltsam, abweichend, verdächtig“)
war ursprünglich ein abwertender Ausdruck für Homosexuelle. Seit den 1990er
Jahren wird queer von vielen nicht-heterosexuellen und non-binären Menschen als
positive Selbstbezeichnung verwendet. Im Rahmen der Ausstellung wird queer als
Sammelbegriff für eine Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten und
Praktiken benutzt, die von heterosexuellen Vorstellungen abweichen. Queer sind
vor allem, aber nicht nur LGBTIQ* – also lesbische, schwule, bisexuelle, trans*
sowie inter* Personen. Darüber hinaus kann „Queering“ auch als Praxis verstanden
werden, verschiedene Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung zu bekämpfen.
Übertragen auf die Themen Geschlecht, Sexualität und Identität bedeutet es,
einen kritischen Blick auf jene Weltanschauung zu werfen, die heterosexuelle
Zweierbeziehungen als soziale Norm begreift. Die starre binäre
Geschlechterteilung in Mann und Frau und damit verbundenen Rollenbilder werden
hinterfragt. In der Ausstellung werden historische Selbstbezeichnungen
verwendet, die durch Quellen nachgewiesen sind.

Selbstermächtigung

Im Deutschen Kaiserreich werden Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von Männern
bestimmt. Die über Jahrhunderte von Staat und Kirche festgeschriebene
Geschlechterordnung ist strikt zweigeteilt: Männern und Frauen sind eindeutige
Rollen zugewiesen, innerhalb derer sie sich zu bewegen haben. Menschen, die
diesen Rollenbildern nicht entsprechen und geschlechtliche und sexuelle
Identitäten jenseits der normierten Ordnung leben, werden ausgegrenzt. Sie
gelten als sittenlos, verbrecherisch oder krank. Nach § 175 des Strafgesetzbuchs
des Deutschen Reichs von 1871 sind sexuelle Handlungen zwischen Männern verboten
und werden mit Gefängnis bestraft. In Österreich ist auch Sex zwischen Frauen
strafbar.

___ Der Freundling oder die neuesten Enthüllungen über das dritte Geschlecht,
hrsg. von August Fleischmann, 1902 | © Forum Queeres Archiv München e. V.

Doch es gibt Einzelne, die gegen die herrschende Geschlechterordnung aufbegehren
und für eine offenere Gesellschaft eintreten. Sie wenden sich gegen die Ächtung
von Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit, setzen sich für eine Änderung
des Strafrechts ein und engagieren sich selbstbewusst für die Anerkennung ihrer
Lebensweisen. Neue Allianzen und Selbstbilder entstehen. Viele dieser
Vorreiter*innen zahlen einen hohen Preis für ihr Aufbegehren: Sie verlieren
ihren Arbeitsplatz, ihre Familie oder Freundschaften und werden gesellschaftlich
isoliert.

___ Musik: Claire Waldoff, Raus mit den Männern aus dem Reichstag, 1928 Gemälde:
Emil Orlik, Porträt von Claire Waldoff, um 1930 | © Stiftung Deutsches
Historisches Museum, Berlin Design: © Studio Erika

Begegnen, bewegen – Banden bilden

Bars und Clubs, Zeitschriften, Organisationen, private oder öffentliche Orte:
Seit der Jahrhundertwende und insbesondere in den 1920er Jahren entstehen queere
Subkulturen und Netzwerke. Gemeinsam werden politische Ziele formuliert.
Kommuniziert wird über eigene Codes, Chiffren und Symbole.

___ Aufnahme vermutlich während der Dreharbeiten zum Film „Anders als die
Andern“, 1919 | © Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Berlin

Der öffentliche Raum ist weiterhin vor allem Männern vorbehalten –
heterosexuellen, weißen und christlichen Männern. Doch die Erfahrung, gegen alle
gesellschaftlichen Widerstände eigene Räume zu erobern, sich zu verbinden und
gemeinsam in die Öffentlichkeit zu treten, führt zu einem erstarkenden
Selbstbewusstsein queerer Szenen.

Dabei wird nicht nur für jeweils eigene Interessen gekämpft; es werden auch
politische Bande geknüpft und über Differenzen hinweg Koalitionen gebildet.
Visionen für eine Gesellschaft mit gleichen Rechten für alle Menschen werden
entworfen, und bestehende Herrschaftsstrukturen in Frage gestellt. Aber auch
innere Konflikte treten zutage, und nicht alle queeren Vereinigungen ziehen an
einem Strang.

___ Trans* Personen im Eldorado in Berlin, 1926 | © bpk

> Nicht gesehen, nicht erkannt zu werden, unsichtbar zu sein für andere, ist
> wirklich die existentiellste Form der Missachtung.

Carolin Emcke, Autorin und Journalistin, 2019

§ 175 des Reichsstrafgesetzbuchs

Auszug: „175: Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen
Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu
bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“

Nach § 175 des Reichsstrafgesetzbuchs ist Geschlechtsverkehr zwischen Männern
strafbar. Diese Bestimmung stammt aus dem preußischen Gesetzbuch und wird mit
der Gründung des Deutschen Reichs 1871 in ganz Deutschland eingeführt. Zuvor ist
Homosexualität nach dem Vorbild Frankreichs in einigen deutschen Ländern
straffrei, so in Bayern, Württemberg und Baden. Der Paragraf ist von Beginn an
umstritten: Kirchlich-konservative und extrem rechte Parteien fordern seine
Verschärfung, Liberale, Sozialdemokraten und Kommunisten seine Abschaffung.


ORGANISATIONEN UND DIE EROBERUNG DES ÖFFENTLICHEN RAUMS

Schwule Männer schließen sich ab Ende des 19. Jahrhunderts zusammen, um gegen
die Strafverfolgung aufgrund von § 175 anzugehen. Sie gründen Vereine und
Verbände und suchen Unterstützer*innen, um ihre Vision einer offeneren
Gesellschaft zu verwirklichen. Berlin ist das Zentrum dieser Bewegung und
entwickelt sich zu einem wichtigen Anziehungspunkt für queere Menschen. 1897
wird dort das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee gegründet, das die rechtliche
und gesellschaftliche Gleichstellung homosexueller und trans*identer Menschen
erreichen will.

___ Aufklärungsschrift „Was soll das Volk vom dritten Geschlecht wissen!“, 1901
| © Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Berlin

Einzelne Aktivistinnen der Frauenbewegungen schließen sich diesem Kampf an,
besonders als 1909 die Ausweitung von § 175 auf Frauen diskutiert wird. Ihr Ziel
ist eine weitreichende Sexual- und Sozialreform: das Recht der Frau auf sexuelle
Selbstbestimmung, auf Abtreibung, auf außereheliche Beziehungen und
Unabhängigkeit vom Mann. Einige Frauenrechtlerinnen leben mit anderen Frauen
zusammen, jedoch nur wenige exponieren sich als lesbische Paare.

In der Weimarer Republik blühen queere Subkulturen auf. Eine vielfältige
Vereinslandschaft entsteht, die die Interessen von Schwulen, Lesben und trans*
Personen vertritt. Der Kampf gegen § 175 ist jedoch nicht immer gleichbedeutend
mit dem Eintreten für eine offene Gesellschaft. Unter den schwulen Aktivisten
gibt es auch solche, die einem homoerotischen Männerkult huldigen. Sie schließen
neben Frauen all diejenigen aus, die nicht ihrem maskulinen, zum Teil
rassistisch geprägten Heldenideal entsprechen.

___ Die 1896 von Adolf Brand gegründete Zeitschrift „Der Eigene“ ist das am
längsten herausgegebene Homosexuellenblatt. Mit seinen
literarisch-künstlerischen Beiträgen beschwört es das Bild heroischer
Männlichkeit. 1926 | © Schwules Museum, Berlin


KAMPF GEGEN § 175: DAS WISSENSCHAFTLICH-HUMANITÄRE KOMITEE

Der aus liberalem jüdischem Elternhaus stammende Mediziner Magnus Hirschfeld
(1868–1935) beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, sich aktiv für die Abschaffung
von § 175 einzusetzen. Anlass für sein Handeln ist der Verfolgungsdruck, dem
schwule Männer ausgesetzt sind. Als Sexualreformer und Gründer des
Wissenschaftlich-humanitären Komitees kämpft er gegen die herrschende rigide
Sexualmoral und trägt ganz wesentlich zur Sichtbarkeit queerer Menschen bei.

___ Magnus Hirschfeld, um 1900 | © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer
Kulturbesitz

Magnus Hirschfeld bedient sich in seiner Aufklärungsarbeit moderner Mittel.
Unter seiner Beteiligung entsteht 1919 das Stummfilm-Drama „Anders als die
Andern“. Es gilt als erster Film, der sich offen mit dem Thema Homosexualität
auseinandersetzt. Von konservativer und rechtsextremer Seite heftig und teils
mit antisemitischer Stoßrichtung skandalisiert, wird der Film zum Anlass
genommen, die nach der Revolution von 1918 eingeführte Kunstfreiheit wieder zu
beschneiden. Nach einem guten Jahr Spielzeit wird der Film 1920 durch die Zensur
verboten, fast alle Kopien werden vernichtet.





Ausschnitt aus „Anders als die Andern“, 1919 | © UCLA Film & Television Archive



„Anders als die Andern“ handelt von einem Musiker, der wegen homosexueller
Handlungen erpresst wird. Als er sich nicht mehr zu helfen weiß und Anzeige
erstattet, wird nicht nur der Erpresser verurteilt, sondern auch er selbst –
wegen Verstoßes gegen § 175. Er zerbricht an dem Urteil und nimmt sich das
Leben. Am Grab des Musikers tritt Magnus Hirschfeld auf und fordert
eindringlich, die Rechte von Homosexuellen anzuerkennen.

> Man muß, wenn einem ein Recht vorenthalten wird[,] kämpfen und nicht
> nachgeben; das ist eine sittliche Pflicht.

Joseph Schedel zur Eröffnung der ersten Sitzung des Wissenschaftlich-humanitären
Comitees München, 24. September 1902


TREFFPUNKTE

In den 1920er Jahren entwickelt sich eine lebendige Szene für Homosexuelle und
trans* Personen. Vor allem in den Großstädten entsteht eine Reihe von
Vereinslokalen, Bars und Clubs, die als Treffpunkte dienen. Unangefochtener
Mittelpunkt queeren Lebens ist Berlin. Die Polizeibehörden verfolgen dort seit
Ende des 19. Jahrhunderts einen liberaleren Kurs als andernorts. Nahezu 200
subkulturelle Orte sind zwischen 1919 und 1933 in der Reichshauptstadt
nachgewiesen, davon rund 80 für lesbische Frauen.

´____ Foto: Das Eldorado in der Motzstraße, Berlin 1932 | © Bundesarchiv Musik:
„Das lila Lied“ von Kurt Schwabach und Arno Billing, gesungen im Damenclub
Violetta, Berlin 1921

Im konservativen München gibt es, wie in kleineren Städten und im ländlichen
Raum, nur einzelne Lokale. Homosexuelle Männer sind wegen der anhaltenden
strafrechtlichen Verfolgung auf informelle Treffpunkte angewiesen. Sie nutzen
öffentliche Parks und Toiletten („Klappen“), um Kontakte zu knüpfen oder Sex zu
haben. Dabei laufen sie stets Gefahr, polizeilich kontrolliert und angezeigt zu
werden.

___ Anzeige des Schwarzfischer, in: Das Dritte Geschlecht, 1931/4 | ©
Stadtarchiv München


ZEITSCHRIFTEN UND INFORMELLE NETZWERKE

Zeitschriften sind ein wichtiges Kommunikationsmittel der queeren Subkulturen.
Sie verweisen auf einschlägige Lokale, Buchhandlungen und Vereinigungen und
dienen als Kontaktbörsen. Vor allem für queere Menschen im ländlichen Raum, wo
es keine funktionierenden Netzwerke gibt, sind diese Hinweise und Möglichkeiten
essenziell. Allerdings müssen die Herausgeber*innen jederzeit mit dem Verbot
ihrer Druckerzeugnisse rechnen. Nicht selten werden ganze Auflagen oder
Jahrgänge als „Schund- und Schmutzschriften“ gekennzeichnet und beschlagnahmt.

___ Zeitungsstand am Potsdamer Platz mit Szenezeitschriften, 1926 | ©
Landesarchiv Berlin

Um polizeilicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu entgehen,
bedient sich die Szene eigener sprachlicher Codes. Tarnbezeichnungen wie
„Freund“, „Freundin“, „ideale Freundschaft“, „freundschaftlicher
Gedankenaustausch“ oder „idealgesinnt“ verweisen auf lesbische und schwule
Zusammenhänge. Kontaktanzeigen in einschlägigen Zeitschriften sind vor allem in
kleineren Städten und auf dem Land oft die einzige Möglichkeit, Gleichgesinnte
zu finden.

___ Historische Zeitschriften „Die Freundschaft“ (1926), „Das 3. Geschlecht“
(1931) und „Die Freundin“ (1929) | © Forum Queeres Archiv München



Wissen, Diagnose, Kontrolle

Um 1900 wächst das Interesse an Sexualität und Geschlecht in der Wissenschaft.
Die Zahl sexualwissenschaftlicher Forschungen und Veröffentlichungen steigt. In
den meisten Schriften werden Homosexualität oder Transidentitäten als
„krankhafte“ Zustände beschrieben. Diese Annahme ist inzwischen wissenschaftlich
widerlegt. Daneben entstehen damals auch wegweisende Theorien, beispielsweise
das Modell der „sexuellen Zwischenstufen“ von Magnus Hirschfeld. Der
Sexualwissenschaftler nimmt darin die spätere Erkenntnis vorweg, dass es neben
Mann und Frau zahlreiche andere Geschlechtsidentitäten gibt.

___ Erster Kongress für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage,
1921, aus: Magnus Hirschfeld, Geschlechtskunde, Bd. 4 | © Forum Queeres Archiv
München

Wissen bedeutet damals wie heute jedoch auch Macht und Kontrolle. Menschen
werden als Patient*innen untersucht, beschrieben, eingeordnet und beurteilt.
Einige Sexualwissenschaftler*innen nehmen in ihre Forschungen biologistische und
eugenische Vorstellungen auf. Diese werden quer durch die Gesellschaft vertreten
und spielen später für die Nationalsozialist*innen eine zentrale Rolle: Ihre
sogenannte „Rassenhygiene“ unterscheidet zwischen „wertem“ und „unwertem“ Leben.

___ Die Zwischenstufenwand im Institut für Sexualwissenschaft veranschaulicht
Hirschfelds Theorie, dass alle Menschen männliche und weibliche Anteile in sich
tragen. | © akg-images

> Das Geschlecht des Menschen ruht viel mehr in seiner Seele als in seinem
> Körper, oder, um mich einer medizinischen Ausdrucksweise zu bedienen, vielmehr
> im Gehirn als in den Genitalien.

Magnus Hirschfeld, Sexualwissenschaftler, 1907




FRÜHE SEXUALWISSENSCHAFT

Die Sexualwissenschaft entwickelt sich im 19. Jahrhundert zu einer
eigenständigen multidisziplinären Wissenschaft außerhalb der Universitäten. In
diesem neuen Bereich arbeiten Fachleute aus Medizin und Biologie ebenso wie
Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen. Sie vertreten teils gegenläufige
Theorien, die oft auch politisch aufgeladen sind.

___ In ihrem „ärztlichen Ratgeber für die Frau“ (1897), plädiert Hope Bridges
Adams Lehmann, Gynäkologin und eine Pionierin der Sexualwissenschaft, für ein
partnerschaftliches Zusammenleben der Geschlechter und für ein neues Verhältnis
zur Sexualität. | © Bayerische Staatsbibliothek München

Wichtige Impulsgeber im deutschsprachigen Raum sind ab den 1860er Jahren der
Jurist und Arzt Karl Heinrich Ulrichs und der Mediziner Richard von
Krafft-Ebing. Insbesondere Ulrichs kämpft für die Entkriminalisierung und
Anerkennung der Homosexualität. Seine Erkenntnisse über die Vielfalt von
Sexualität und Geschlecht sind bis heute grundlegend. Andere Wissenschaftler
begreifen das „dritte Geschlecht“ als krankhafte Erscheinung und wollen mit
teils fragwürdigen Methoden eine „Umerziehung“ und „Heilung“ der Patient*innen
bewirken. Oft sind körperliche oder psychische Traumata die Folge.

___ © Studio Erika


DAS INSTITUT FÜR SEXUALWISSENSCHAFT UND SEINE PATIENT*INNEN

Magnus Hirschfeld ist der bekannteste Vertreter der Sexualwissenschaft im
deutschsprachigen Raum. Er verbindet das Streben nach Emanzipation und die
wissenschaftliche Perspektive, er ist Vorkämpfer der Entkriminalisierung und
Mediziner zugleich. Sein 1919 in Berlin gegründetes Institut für
Sexualwissenschaft wird zum Zentrum der linksliberalen Sexualreformbewegung der
Weimarer Republik. Neben Forschung und medizinischer Beratung betreibt das
Institut eine Bibliothek, ein Archiv und ein Museum. Anders als konservative
Sexualwissenschaftler*innen wirken Hirschfeld und seine Mitarbeiter*innen auf
Selbstakzeptanz Homosexueller und trans* Personen hin.

___ Unter dem Titel „Transvestiten vor dem Eingang des Instituts für
Sexualwissenschaft“ veröffentlichte Fotografie, Berlin 1921 | © bpk /
Kunstbibliothek, SMB, Foto: Willy Römer

In dieser „Adaptionstherapie“ oder „Milieutherapie“ sollen sich die Personen an
das queere Milieu anpassen, das ihnen entspricht, anstatt sich zu verbiegen.
Viele wichtige Personen aus der Szene, wie zum Beispiel Lili Elbe, werden hier
behandelt. Homosexuelle Schriftsteller wie André Gide oder Christopher Isherwood
sind zu Gast. Auch Menschen, die man heute als intergeschlechtlich bezeichnen
würde, werden beraten. Schon früh stören sich die Nationalsozialist*innen an der
liberalen Sexualwissenschaft, Hirschfeld und seinem Institut. Wie Hirschfeld
sind viele der Mitarbeitenden jüdisch. 1933 zerstören nationalsozialistische
Student*innen und SA-Leute das Institut, Hirschfeld befindet sich zu dieser Zeit
auf Weltreise und bleibt im Exil in Frankreich.

___ Gerda Wegener, Porträts von Lili Elbe, 1920er Jahre | © Wikimedia Commons /
Centre Pompidou Paris

Das Institut entwickelt sich zum Zufluchtsort für „Transvestit*innen“. So werden
damals unter anderem Menschen genannt, die wir heute als trans* Personen
verstehen. Einige von ihnen wohnen im Institut und verdienen dort ihren
Lebensunterhalt. Gerade sie stehen in einer großen Abhängigkeit zum Institut.
Trotz der großen Verdienste ist das Verhältnis zwischen Mediziner*innen und
„Patient*innen“ am Institut aus heutiger Sicht nicht unproblematisch.

___ Ausschnitt aus dem Film „Mysterium des Geschlechts“ von Lothar Golte/Carl
Kurzmayer, Österreich 1933 | © Filmarchiv Austria

Indem Hirschfeld und seine Mitarbeiter*innen zwischen queeren Personen und
staatlicher Macht vermitteln, können sie ihre „Patient*innen“ einerseits
schützen und für sie mehr Rechte und Freiräume erstreiten. Doch dazu kooperieren
sie mit Polizei und Gerichten und ermöglichen den staatlichen Institutionen so
Zugriff und Kontrolle. Damals wie heute werden inter* und trans* Menschen nur
selten als Expert*innen ihrer selbst wahrgenommen und sind auf die Anerkennung
durch Medizin und Justiz angewiesen. Damit geht ein wissenschaftlicher und
staatlich-regulierender Blick auf ihre Körper einher, der sie in die Rolle von
Patient*innen, also fremdbestimmter Objekte drängt, anstatt ihnen Autonomie über
ihren Körper sowie eine eigene Stimme zuzugestehen.

____ Ab 1900 werden „Transvestitenscheine“ von Ärzt*innen ausgestellt, die
amtlich bestätigen, dass eine Person als „Männerkleidung tragend“ oder
„Frauenkleidung tragend“ bekannt ist. | „Transvestitenschein“ für Gerd Katter,
1928 | © Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft


CHARLOTTE WOLFF - SEXUALWISSENSCHAFT IM EXIL

In der von Männern dominierten Sexualwissenschaft werden weibliche
Homosexualität und Bisexualität wenig beachtet. Eine Ausnahme bildet die
Forschung von Charlotte Wolff (1897–1986). Die Medizinerin stellt das Thema ins
Zentrum ihrer Arbeit. Ab 1933 geraten linke, jüdische und offen lesbische Frauen
in Deutschland zunehmend ins Visier der Nationalsozialist*innen. 1933 emigriert
die jüdische Ärztin zunächst nach Paris, 1936 nach London. Ihre Forschung zu
lesbischer Sexualität und Bisexualität tragen ihr ab den 1960er Jahren
internationale Anerkennung ein.

___ Charlotte Wolff, Bisexualität, deutsche Ausgabe von 1981 | ©
NS-Dokumentationszentrum München

Körper fühlen, Bilder sehen

Zeitgleich zu den Entwicklungen in der Sexualwissenschaft finden neue
Vorstellungen von Körper, Geschlecht und Intimität ihren Ausdruck in Kunst und
Kultur. Literatur, Theater, Film und Bildende Kunst bieten die Möglichkeit,
geschlechtliche Stereotypen infrage zu stellen und neue Körper- und Rollenbilder
zu entwerfen. Diese dienen als Basis für die Imagination freierer Lebensweisen
und legen den Grundstein für das, was wir heute als queere Ästhetik wahrnehmen.

___ Die bisexuelle Tänzerin Anita Berber konfrontiert das Publikum mit
Tabuthemen wie Homoerotik, Nacktheit und Drogenkonsum, um 1925 | © Stiftung
Stadtmuseum Berlin - Archiv Deutsche Staatsoper

Während der Artikel 142 der Weimarer Reichsverfassung weitgehende Kunstfreiheit
verspricht, wird gleichzeitig eine Zensur für das neue Medium Film eingeführt.
Gerade in München gibt es zahlreiche Verbote von Film- und Theateraufführungen,
die als anstößig erachtet werden.

___ Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin Josephine Baker versteht es, in ihrem
Tanz auf rassistische und sexuell aufgeladene Stereotype hinzuweisen, um 1930 |
© Alamy Stock

> [S]ome queer artists dream in images, in defiance of the straight imagination.
> Their eyes desire narratives of loning and pleasure, free of trauma, with
> illuminations of relief. Through their pictures, other ways of existing are
> possible.

Antwaun Sargent, 2020 Autor und Kurator


NEUE KÖRPERBILDER

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts experimentieren Künstler*innen mit
neuen Darstellungen von Körperlichkeit. Sie entwerfen ein großes Spektrum
möglicher Identitäten und Sexualitäten außerhalb der dominanten Kategorien. Sie
unterlaufen binäre Vorstellungen von Geschlecht, sei es durch
Doppeldeutigkeiten, geschlechtsneutrale Codes oder das Spiel mit androgynen
Körperbildern.

___ Alexander Sacharoff, Pavane Fantastique, um 1916/17 | © Städtische Galerie
im Lenbachhaus und Kunstbau München

1933 setzen die Nationalsozialist*innen dieser Vielfalt ein Ende.
Avantgardistische Werke von Künstler*innen wie Hannah Höch oder Jeanne Mammen
werden als „entartet“ diffamiert und beschlagnahmt, verboten oder zerstört.
Stattdessen würdigt das Regime Künstler*innen wie Arno Breker, Leni Riefenstahl
oder Josef Thorak, die traditionelle Geschlechterbilder in monumentalen
Darstellungen verewigen. Diese Bilder unterstützen die völkischen Ideale des
NS-Regimes und wirken bis lange in die Nachkriegszeit.

___ Hannah Höch vor ihrer Staffelei, Selbstporträt (Doppelbelichtung), 1930.
Hannah Höch arbeitet in ihrer Kunst mit Klischees und Rollenbildern und prägt
die Dada-Bewegung stark mit. | © akg-images




LIEBENDE

In einer Zeit, in der schwule und lesbische Liebe fast ausschließlich im
Verborgenen stattfinden kann, wird das Festhalten queerer Intimität innerhalb
der Kunst zu einem politischen Bekenntnis. Die Bilder stellen einen Akt der
Selbstbehauptung in einem diskriminierenden Umfeld dar. Sie entwerfen Utopien
und alternative Realitäten, die ein Zusammensein ermöglichen – teils im
Rückgriff auf die Antike, teils mit visionärem Blick auf zukünftige Formen des
Liebens und Seins.

___ Gertrude Sandmann, Rosa Nachthemd und Schwarzer Pyjama, 1928 | © Anja
Elisabeth Witte/Berlinische Galerie


QUEERE TEXTE

Zwischen 1900 und 1933 erscheinen viele literarische Texte und Zeitschriften,
die den medizinischen und juristischen Diskurs über Geschlecht und
Homosexualität begleiten. Sie reichen von erotischen Kurzgeschichten und
Gedichten über fiktionalisierte Autobiografien bis hin zu Romanen.

___ Klaus Mann, Der fromme Tanz, 1925 | © Bayerische Staatsbibliothek München


DIE BÜHNE ALS ORT DER UTOPIEN

In der Weimarer Republik entstehen in vielen Großstädten Varietés, Theater und
Nachtlokale, auf deren Bühnen ein freier Umgang mit Sexualität und
Geschlechteridentitäten möglich ist. Bühnenstars werden zu
Identifikationsfiguren alternativer Geschlechterrollen, und der Kleidertausch
auf der Bühne entwickelt sich zu einem eigenständigen Genre.

___ Tanzstudie von Alexander Sacharoff, 1912 | © Wikimedia Commons

Die oft als „golden“ bezeichneten 1920er Jahre sind für die meisten Menschen
keineswegs von Wohlstand geprägt, auch wenn immer mehr Menschen Zugang zu
Unterhaltungskultur haben. Kriegstraumata und wirtschaftliche Not wecken das
Bedürfnis, den Sorgen des Alltags zu entfliehen.

Die Bars, Clubs und Varietés dieser Zeit sind für viele Menschen Orte, an denen
sie mit alternativen Geschlechterbildern und Homosexualität in Berührung kommen
und wo sich gesellschaftliche Debatten entzünden.

___ Der*die Trapez-Künstler*in Barbette feiert ab Mitte der 1920er Jahre in
Europa große Erfolge, fotografiert von Dora Kallmus, ohne Jahr | © Nachlass
Madame d´Ora, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Die vielen noch erhaltenen Starpostkarten von heute meist unbekannten Herren-
und Damenimitator* innen erzählen von ihrer Beliebtheit. Hansi Sturm, Hilmar
Damita, Orsano und Wilma Waldeck sind Berühmtheiten der Szene, die in ihren
Shows mit Geschlechterrollen spielen und Konventionen auf den Kopf stellen – und
das nicht nur vor queerem Publikum.

___ Starpostkarten von Damen- und Herrenimitator*innen, ca. 1900–1930 | ©
Schwules Museum Berlin

Leben in der Diktatur

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 ist jede Form queeren
Lebens bedroht und nur noch in privaten Räumen oder an geheimen Orten möglich.
Die Hoffnung auf eine stillschweigende Tolerierung von Homosexualität durch die
Nationalsozialisten wird spätestens nach der Ermordung des homosexuellen
SA-Stabschefs Ernst Röhm zerschlagen. Die Zeit der offenen Verfolgung beginnt.

Bei den ersten großen NS-Razzien gegen Homosexuelle am 20. Oktober 1934 werden
allein in München 145 Männer verhaftet. § 175 des Strafgesetzbuchs wird im Juni
1935 verschärft: Jede sexuell konnotierte Handlung unter Männern ist nun
strafbar.

___ Ernst Röhm und Adolf Hitler während des Reichsparteitags in Nürnberg, 1933 |
© Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv

Etwa 57.000 homosexuelle Männer werden zu Haftstrafen verurteilt, circa 6.000
bis 10.000 von ihnen in Konzentrationslager verschleppt und mindestens die
Hälfte davon ermordet.

Weibliche Homosexualität wird im Deutschen Reich nicht strafrechtlich verfolgt,
jedoch gesellschaftlich geächtet. Werden lesbische Frauen und Personen, die sich
nicht geschlechtskonform verhalten, denunziert, drohen ihnen polizeiliche
Ermittlungen, Hausdurchsuchungen und Verhöre. Kommen politische Gegnerschaft,
soziale Abweichungen oder rassistische Verfolgung hinzu, müssen sie mit
Repressionen oder einer Internierung im Konzentrationslager rechnen

___ Der Grafiker Richard Grune war wegen seiner Homosexualität von 1934 bis 1945
fast durchgängig inhaftiert. Unmittelbar nach seiner Befreiung aus dem KZ
verarbeitete er das Erlebte künstlerisch. | Richard Grune, Solidarität,
Lithografie, 1945/46 | © Wien Museum

> Because of my caring for another human being, we somehow never lost our
> dignity and remained people.

Margot Heumann, Holocaustüberlebende, 1992


HOMOSEXUALITÄT IN NS-VERBÄNDEN UND BEIM MILITÄR

Die Ächtung von Homosexualität wird von verschiedenen Seiten im politischen
Kampf eingesetzt. 1931 / 32 instrumentalisieren die Sozialdemokraten Ernst Röhms
Homosexualität, um der NSDAP zu schaden. Der Fall Röhm bedient die Vorstellung
der sich in Männerbünden sammelnden „schwulen Nazis“, ein Phänomen, das durchaus
existiert. Ab Mitte der 1930er Jahre geht das NS-Regime verstärkt gegen
homosexuelle Aktivitäten in Wehrmacht, Polizei und NS-Verbänden vor. Innerhalb
der Parteiorganisationen und der Polizei wird Intimität zwischen Männern jetzt
besonders streng bestraft. Die nationalsozialistische Propaganda bezeichnet
homosexuelle Männer als „Staatsgefährder“, um ihre Verfolgung zu legitimieren.
Dennoch gibt es weiterhin versteckte homosexuelle Kontakte.

___ „So räumte der Führer auf!“, Titelseite der Extra-Ausgabe des Völkischen
Beobachters, 30.6.1934, Berliner Ausgabe | © akg-images


ANGEPASST ÜBERLEBEN

Nach der reichsweiten Zerschlagung der schwulen und lesbischen Subkulturen und
der Verschärfung des Strafrechts finden homosexuelle Kontakte fast nur noch in
Privaträumen statt.

Aus Angst vor Denunziation und Verfolgung versuchen die meisten Homosexuellen,
ihre Sexualität zu verbergen und sich anzupassen.

___ Häftlingskarteikarte des KZ Natzweiler für Alexander (Bella) Pree, 1943.
Pree würde heute vermutlich als inter* Person gelten. Sie selbst fühlt sich als
Frau, ihr Pass weist sie als männlich aus. Sie wird in Österreich 1936 und 1942
wegen Verstoßes gegen des ‚Homosexuellen-Paragrafen‘ 129Ib verurteilt und
1942/43 im KZ Natzweiler kastriert. | © Arolsen Archives





Dies gilt auch für lesbische Frauen und trans* Personen, die an sich nicht
strafrechtlich verfolgt werden. Sie können unbehelligt bleiben, solange sie
nicht auffallen. Scheinehen sind eine von vielen Überlebensstrategien.

Einzelne prominente Künstler*innen werden trotz ihrer allgemein bekannten
Homosexualität vom NS-Regime geduldet. Das Regime braucht diese Stars für seine
Propaganda, verzichtet auf Verfolgung und verlangt dafür ein angepasstes Leben.

___ Schauspieler Gustaf Gründgens 1937 mit Marianne Hoppe, mit der er eine
Scheinehe führte. 1952 adoptiert er seinen Lebensgefährten Peter Gorski – der
einzige Weg für eine juristisch geschützte Bindung. | © Süddeutsche Zeitung
Photo / Scherl




VERFOLGUNG UND HAFT

Der Umgang des NS-Regimes mit Homosexuellen und trans* Personen ist nicht
einheitlich. Anfangs kommen die meisten der nach § 175 verurteilten Männer nach
verbüßter Gefängnisstrafe wieder frei. Vor allem ab 1940 werden viele in KZs
überstellt. Lesbischen Frauen und trans* Personen werden mitunter andere
Straftaten zur Last gelegt: etwa Prostitution oder Erregung öffentlichen
Ärgernisses. Nicht wenige werden aus politischen, sozialen oder rassistischen
Gründen verfolgt.

____ Polizeifoto von Liddy Bacroff, 1933. Bacroff bezeichnet sich selbst als
„homosexuellen Transvestiten“, lebte von Sexarbeit, wurde mehrfach verhaftet.
1943 wird Barcoff im KZ Mauthausen ermordet. | © Staatsarchiv Hamburg

In Gestapo-Haft und im KZ sind homosexuelle Männer Willkür und Gewalt
ausgesetzt, nur wenige überleben. Auch einige lesbische Frauen und trans*
Personen werden in KZs ermordet. Es gibt kaum Solidarität unter den
Mithäftlingen, vor allem die Männer mit dem „Rosa Winkel“ werden geächtet. Mit
diesem Symbol wurden tausende homosexuelle Männer im KZ gekennzeichnet. Hunderte
Männer werden zur Kastration gezwungen. Zugleich kommt es zu sexueller
Ausbeutung durch Wachen und Funktionshäftlinge. Die Überlebenden sprechen nach
1945 selten über ihre Verfolgung.

___ Tagebucheintrag von Elisabeth (Lilly) Wust zur Verschleppung ihrer jüdischen
Lebensgefährtin Felice Schragenheim ins KZ Theresienstadt, 21.8.1944 | ©
Jüdisches Museum Berlin


EXIL UND WIDERSTAND

Nur wenigen homosexuellen und trans* Menschen gelingt es, sich der NS-Verfolgung
durch Emigration zu entziehen. Diese Möglichkeit steht meist nur Wohlhabenden
offen oder jenen, die über internationale Kontakte verfügen und aufgrund ihrer
Ausbildung und Sprachkenntnisse im Ausland Arbeit finden können. Die Ausreise
aus Nazi-Deutschland wird durch die 1934 verschärften Maßnahmen gegen den
Vermögenstransfer erschwert. Die „Reichsfluchtsteuer“ reduziert das Vermögen bei
Ausreise um 25 Prozent, die Ausfuhr von Devisen wird verboten, die Übertragung
von Bank- oder Wertpapierguthaben ist beinahe unmöglich.

___ Programmflyer des NS-kritischen Kabaretts „Die Pfeffermühle“ um Erika Mann
und Therese Giehse, New York Januar 1937 | © Münchner Stadtbibliothek /
Monacensia

Einzelne homosexuelle oder transidente Menschen entscheiden sich zu aktivem
Widerstand gegen das NS-Regime, auch in den von Deutschland besetzten Gebieten.
Sie klären über die Verbrechen des NS-Regimes auf, rufen zum Widerstand auf,
leisten Sabotage, begehen Anschläge oder kämpfen als Partisan*innen oder
Angehörige fremder Truppen gegen Hitler-Deutschland.

___ Die jüdische-französische Autorin und Fotografin Claude Cahun (1894–1954)
leistet gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Widerstand gegen das NS-Regime, 1945
| © Jersey Heritage Collection

Nach 1945

Queere Geschichte wird nach 1945 kaum erinnert oder archiviert. Bis heute kennen
wir nur einen Teil der Vorreiter*innen der queeren Emanzipationsbewegung. Noch
weniger wissen wir über das Leben derjenigen, die verfolgt, ins Exil getrieben,
ermordet wurden – oder einfach unsichtbar geblieben sind.

Nach Kriegsende werden queere Menschen weiter ausgegrenzt. Besonders schwule
Männer leiden in großer Zahl weiter unter § 175. Viele von ihnen kommen nicht
frei, sondern werden aus den Konzentrationslagern direkt in Gefängnisse
überführt.

Die anhaltende Diskriminierung durch Staat und Gesellschaft ändert sich nur
langsam. 1969 wird § 175 reformiert und das Strafrecht liberalisiert. Ab den
1970er Jahren entstehen neue soziale Bewegungen, darunter auch eine homosexuelle
Emanzipationsbewegung. Einzelne Gruppen reklamieren den „Rosa Winkel“ als
Symbol, um mit ihm für die Rechte queerer Menschen einzutreten.

Auch lesbische und feministische Gruppen gewinnen in den 1970er Jahren an
Zuspruch. Obwohl lesbische Sexualität nicht direkt staatlich verfolgt wird,
leiden viele unter der frauenfeindlichen Rechtslage. Die gesetzliche
Besserstellung von Männern macht das Ausleben lesbischer Beziehungen durch
Diskriminierungen im Arbeits- und Eherecht schwer.

Das Aufkommen von HIV in den 1980er Jahren trifft viele schwule Männer und
trans* Menschen: Tausende infizieren sich, erkranken an AIDS und sterben. Der
Staat hilft nicht, sondern setzt auf stigmatisierende Maßnahmen und eine
aggressive Rhetorik der Ausgrenzung, vor allem in Bayern. Das lässt die
Betroffenen an die zurückliegende Zeit der offenen Verfolgung denken.

Dank des Einsatzes von Aktivist*innen verbessert sich die gesundheitliche,
politische und gesellschaftliche Situation von LGBTIQ* seit den 1990er Jahren.
Heute können queere Menschen in Deutschland einige Errungenschaften feiern und
sind auch politisch vertreten. Dennoch bleibt für die Gleichberechtigung von
LGBTIQ* noch viel zu tun. An vielen Orten der Welt verschlechtert sich die Lage
zunehmend wieder. Insbesondere trans* Personen sind nach wie vor großer
Diskriminierung ausgesetzt.

Der Einsatz für queere Selbstbestimmung ist damit nicht vorbei, sondern
aktueller denn je. Denn am Ende sorgt er nicht nur für die Wahrung von
LGBTIQ*-Menschenrechten, sondern schafft eine gerechtere Gesellschaft für alle.




TO BE SEEN. QUEER LIVES 19OO–195O

7. Okt. 2022 bis 21. Mai 2023

NS-Dokumentationszentrum München, Max-Mannheimer-Platz 1, 80333 München |
nsdoku.de



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